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Da war das Treppenhausfenster. Und draußen das Dach eines niedrigeren angrenzenden Hauses. “‘ne Dachluke werden sie nebenan ja wohl noch haben!” flüsterte Reafer.
Mit fliegenden Fingern öffnete Reafer das Fenster und schlüpfte hindurch. Sie landete in etwas Glitschig-Schleimigem, das beim Fußkontakt ein lautes schlürfendes Geräusch machte. Rhyan, mit seinem Schrank-Kreuz, kam nicht so einfach durch das schmale Fensterchen. Er blieb stecken!
“Nun beeil dich doch gefälligst!” zeterte Reafer von draußen.
“Hör bloß auf, rumzupöbeln!” Rhyan wand sich, ruckte, schubste. Nichts ging! Er fluchte.
Reafer nervte sich. “Hast’es vielleicht bald?!! Wie kann man bloß so umständlich sein?!!” Die schleimige Soße, in der sie stand, war eisig kalt und stank wie der übelste “Tolk[i]“!
Rhyan versuchte, sein Bein mit durchzustecken. Es machte BRRROCH!, und der Fensterrahmen wurde rausgesprengt! Mit Rhyan drin! Wütend und fluchend befreite er sich von dem blöden Gestell und pfefferte es quer über das Dach — mit so viel Power, dass es über den Rand flog und in der Nacht verschwunden war!
Reafer kriegte zuviel! “Duuuuu… bist doch ‘n Büffel! Schmeißt ‘n Fensterrahmen auf die Straße!! — Und wenn die Jäger da jetzt genau druntergestanden haben?!!”
“Denn hat einer von denen jetzt ‘n viereckigen Kragen! Los! Komm endlich weiter!”
Wütend über seine eigene Ungeschicklichkeit, stapfte er durch den schmierigen Dachbelag auf eine dunkle Gebäude-Silhouette zu. Reafer hampelte hinter ihm her. Bei jedem ihrer Schritte gab es ein schmatzendes Geräusch. Immer wieder sahen sie sich um nach dem Haus, das sie gerade verlassen hatten: ein riesiger schwarzer Schatten, der in den nebel-wabernden Nachthimmel ragte und mit seiner Stille und Masse etwas Drohendes hatte! Kein einziges Fenster war erleuchtet. Kein Geräusch. Keine Bewegung. “Vielleicht”, mutmaßte Rhyan optimistisch, “denken deine Kumpels, dass das Scheppern von eben die Fahrstuhltür gewesen iss… Und nun warten sie unten vor’m Fahrstuhl auf uns…”
“Der Fahrstuhl hat bei dir wohl ‘n Trauma hinterlassen, was?!” knurrte Reafer.
Sie fanden die Dachluke des Nachbarhauses. Das Ding war total verrostet und brauchte Rhyans Kraft, um sich öffnen zu lassen. “Gutes Zeichen!” fand Reafer, während Rhyan sich an den Scharnieren abschuftete. “Die Klappe hat lange keiner mehr benutzt…”
“Logisch!” keuchte Rhyan. “Wer latscht bei d e r Luft auch auf’m Dach rum! — Außer uns!”
“Na, die Jäger zum Beispiel!”
Rhyan verschwand als erster in dem schwarzen Loch. Gleich darauf hörte man es mörderisch krachen und poltern, untermalt von derbsten Flüchen. Die Stiege hatte Rhyans Gewicht und seine mehr als energischen Tritte nicht verkraftet!
Reafer konnte sich mal wieder nicht beherrschen und zankte ins Loch hinein. “Du Trampel! Und wie soll ich da jetzt noch runterkommen?!!”
“Alte Giftspritze!” knurrte es dumpf aus der Tiefe. “Spring einfach!”
Das musste Reafer ja wohl auch. Missmutig warf sie ihre Tasche ins Loch.
Ein wütendes “AU!!!” zischte auf, gefolgt von den schwärzesten Wünschen der Hölle.
Reafer sprang ins unbekannte Dunkel. Sie landete in Rhyans Armen. Als sei sie gewichtsmäßig nicht mehr als ein Kissen, das heruntergesegelt kam!
“Mit dir macht man was mit!” grummelte er zur Begrüßung. “Erst krakeelt sie’s ganze Stadtviertel zusammen, und denn donnert sie einem ihr’n Kulturbeutel auf’n Kopp!”
“Tut mir leid! Hast ja Recht! — Ich nehm mich jetzt auch zusammen!”
Sie stolperten durch das tintenschwarze Dunkel eines Dachbodens. Die Luft nahm einem den Atem. “Ich würde mich nicht wundern, wenn wir in’n Haufen Scheiße treten!” japste Reafer. Es stank übelkeiterregend! Und überall lauerten Hindernisse in der Schwärze, an denen sie sich sämtliche Knochen anstießen! Ganz zu schweigen von dem Geboller und Getöse!
Nach einer Ewigkeit des blinden Herumstolperns fanden sie endlich eine Tür. “So! Jetzt ganz vorsichtig! Nun dürfen wir wirklich keinen Krach mehr machen!” ordnete Rhyan an und langte nach dem Türknauf. — Die alten Scharniere kreischten gepeinigt auf, dass es einem die Ohren zerfetzte! Reafer und Rhyan erstarrten vor Schreck. Mit angehaltenem Atem lauschten sie nach unten, in ein muffiges Treppenhaus. Es war nichts zu hören — nur ihr eigenes Herzklopfen und das Rauschen des Blutes in den Ohren.
Reafer musste sich Luft machen. “Donnerwetter! Du kannst wirklich ‘leise’ sein!! — Wo haste Anschleichen gelernt?! Im Blasorchester?!” zischte sie wütend.
“Halt bloß die Luft an! D u hättest die Scheiß-Tür überhaupt nich aufgekriegt!”
“Pfffh!”
Unter höchster Anspannung, schlichen sie die abgetretenen Stufen hinunter. Es war glatt wie mit Seife eingeschmiert! Ein paarmal glitten sie aus und bolperten mit Getöse über die Stufen. Auf jedem Absatz machten sie Halt und lauschten, mit allen ‘Antennen ausgefahren’. Es wurde ihnen beiden immer unheimlicher, dass sie immer noch unbehelligt waren bei dem Weltuntergangslärm, den sie veranstalteten!
Hinter einer Wohnungstür in der zweiten Etage tobte ein Ehestreit. Es schepperte und knallte, und eine schrille Stimme verlautete: “… besten Jahre meines Lebens… Wenn ich Harry geheiratet hätte… alles geopfert…” Dumpfes Brüllen orgelte dagegen an. “…Bestell deinem Scheiß-Harry…” Dann Türenknallen. “Wo gehst du hin?!!” keifte es. Die Tür wurde aufgerissen. Ein Mann stürzte heraus, mit einer gewaltigen Schnapsfahne. Er war so in Rage, dass er Rhyan und Reafer gar nicht bemerkte, die sich eng an die Wand drückten. Hinter ihm her stürzte eine vollschlanke Furie im Bademantel. “ALFRED!!!” kreischte sie. “BLEIB S O F O R T HIER!!”
Aber Alfred hustete ihr was. In wilder Flucht stürzte er zur Treppe. Er stolperte über Reafers Tasche. Brüllend bollerte er in die Tiefe. Seine Gattin warf sich mit einem gellenden Aufschrei hinterher. Eine Etage tiefer stritten sie sich weiter.
Jetzt öffneten sich überall Wohnungstüren. “R U U U H E E E !!!” schrie es. Von allen Seiten kamen Leute in Bademänteln und Schlafanzügen und begannen herumzubrüllen und zu -krakeelen. Es war ein Höllenspektakel!
Rhyan und Reafer waren zuerst fürchterlich erschrocken. Dann waren sie bei jeder neuen Stimme zusammengezuckt. Schließlich sahen sie sich an, konnten nur noch feixen und sich an die Stirn tippen. “Komm!” gluckste Reafer leise. “Das fällt gar nicht auf, wenn wir uns da still dran vorbeidrücken!”
“Jau! Aber hoffentlich kannst du der Versuchung widerstehen, da mitzupöbeln!”
Ein paar Augenblicke später standen sie aufatmend auf der nächtlichen Straße. Der Lärm im Haus war bis hier draußen zu hören! Reafer und Rhyan drückten sich in den Schatten der Hauswand. Von den Jägern war nichts zu sehen.
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[i] Tolk — in der saxxan’schen Mythologie das Gegenstück zu Wesen wie Teufel, Troll, Kobold, etc