Reafer wurde Sonntagmorgen brutal aus dem Schlaf gedröhnt von einer außer Rand und Band geratenen Kirchenglocke. Panisch fuhr sie hoch und langte automatisch nach ihrer Waffe. Die war aber nicht da! Stattdessen knallte sie mit dem Kopf gegen etwas, das ohrenbetäubend schepperte und sie mit heißer Flüssigkeit überschüttete! Schmerz! — In hohem Bogen flog die Koffokanne, die Sheriff Baker, vor ihrer Pritsche stehend, in der Hand gehalten hatte, durch die Zelle. Reafer, wie betäubt vom Tosen und Lärmen der Glocken, erkannte nur schemenhaft eine Gestalt und schlug augenblicklich zu. Der Sheriff kassierte einen krachenden Faustschlag, der ihn hinter der Kanne her, gegen die Wand schleuderte. Schon stand Reafer auf den Beinen. Sie blickte verwirrt um sich.

“Na, na, na! Was ist denn das für ein, äh, Benehmen!” hörte sie irgendjemanden sagen. Und irgendjemand anderer antwortete: “Ich sagte Ihnen ja, Sheriff, sie ist gewalttätig!” Lachen war zu hören…

Ganz allmählich löste der dumpfe Schleier sich auf, und Reafer begann ihre Umgebung wahrzunehmen: eine Gefängniszelle! — In der Ecke an der Wand saß ein kleiner dicker Mann, der sie mit großen, entsetzten Augen anstarrte und sich das Kinn rieb. Auf dem Boden Scherben und Flüssigkeitslachen, eine richtige Schweinerei! — Jetzt wusste Reafer wieder, wo sie sich befand. Und sie hatte offensichtlich Sheriff Baker einen Kinnhaken verpasst! “Tut mir leid!” murmelte sie unwirsch und ging auf ihn zu, um ihm aufzuhelfen. Aber er machte einen verschreckten Satz zur Seite.

“Lassen Sie nur! Ist schon gut!” wiegelte der Gesetzeshüter angstschwitzend ab. Es stimmte also: Die Frau war extrem gemeingefährlich! “Ich weiß ja Bescheid!” stotterte er. “Beruhigen Sie sich nur! Es wird alles gut werden, junge Dame! Jetzt, wo Ihr Anwalt und der Onkel Doktor gekommen sind, um Sie nach Hause zu holen!”

‘Anwalt’???? ‘Onkel Doktor’???? Wovon faselte der Mann????!! Hatte sie den schlimmer getroffen als es aussah?! — Reafer blickte rüber ins Sheriff-Büro. Da saßen tatsächlich welche… in den Besucherstühlen…

Dann erkannte sie sie! Es waren… Rhyan Sadarkas Kumpane!!! Reafer musste zweimal hingucken, um das zu begreifen! — Der bebrillte lange Lulatsch und das rotblonde Ekel!!! Kein Zweifel! Sie waren es! Sie lümmelten breitbeinig in den Stühlen und grinsten unverschämt zu ihr rüber.

“Ihr!!!”

“Aha! Sie erkennt Sie!” Für den Sheriff, der sich wieder aufrappelte, war die Sache völlig klar. Mit vorsichtigen Bewegungen ‑ nur nichts Hastiges! ‑ näherte er sich seinem Schreibtisch. Wobei er einen großen Bogen um die immer noch verdattert mitten in der Zelle stehende Reafer machte.

“Nun sollten Sie aber wirklich kooperieren!” empfahl er, während er mit zittrigen Fingern Papiere ausfüllte. “Und Ihrem armen Onkel nicht noch mehr Kummer machen!”

“Meinem… ‘Onkel’????!!”

In den Gesichtern der beiden langhaarigen “Tolks[i]” zuckte es. — Die hatten dem Sheriff offensichtlich irgendeine Story erzählt!

“Oh ja! Der arme Mister Atherton-Thorpe! Denken Sie nur, was der alles durchmacht!”

“Mister…  W e r ???!!”

“Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie diese Limonadenfabrik in die Luft gesprengt haben!”

“Ach?! — Die Limonadenfabrik…” So langsam erwachte Reafers Neugier. Was hatten die Spinner dem Sheriff denn bloß alles erzählt?! Die jedenfalls feixten, dass die Schwarte krachte, und amüsierten sich augenscheinlich fantastisch!

“Sie müssen nun aber wirklich brav sein und tun, was Doktor McLaren Ihnen sagt!” kriegte sie wieder vom Sheriff zu hören. “So kann das doch wirklich nicht weitergehen! — Und vor allem das Trinken müssen Sie in den Griff bekommen!”

“Das Trinken…???!!”

“Ja, wirklich! Wenn man doch sogar schon einen Leberschaden hat…!”

“Du liebe Güte!” murmelte Reafer konsterniert. “Das wusste ich ja gar nicht…!”

“Und was macht das auch für einen Eindruck… Eine junge Dame, und dann noch aus Ihren Kreisen… Wo Ihr Onkel auch noch in Triennia akkreditiert ist! So eine Ehre! Da muss man sich als Familienmitglied doch entsprechend benehmen! Und nicht grölend und betrunken die Gegend unsicher machen und Männer anfallen!”

“Naja…” wiegelte Reafer ab. “Aber…” Sie starrte offenen Mundes auf die beiden Typen, die sich kaum noch beherrschen konnten.

“Ja, ja, ich weiß schon…” ging das beim Sheriff weiter. “Ihre nymphomanische Veranlagung! — Aber denken Sie denn nie daran, dass Ihre VD-N hochgradig ansteckend ist?!”

“Nee!” gab Reafer offen zu. So allmählich fing sie an sich zu amüsieren. — Das Bild, das der Sheriff wiedergab, und dessen Urheber zweifelsohne diese beiden Männer waren, war wenig schmeichelhaft für sie: ein geisteskrankes Monstrum, mit Leberschaden und nymphomanischen Anfällen, Exzess-Säufer und Seuchenüberträger! Und wenn sie gerade mal nicht soff oder vergewaltigte, dann vertrieb sie sich die Zeit offenbar mit grobem Unfug, wie Lebensmittelgeschäfte ausrauben, Ausflugsdampfer versenken oder ‑ naja, das stimmte sogar ‑ Busse entführen!

Aber was sollte der Quatsch?!! Wieso hatten die beiden Bekloppten denn nicht einfach ihre Geheimdienst-Ausweise gezückt?! Dieser Zirkus hier, das war doch völlig unnötig! — Wie auch immer, sie saß ja wohl in der Falle, das war Reafer sonnenklar! Wenn auch wenigstens nicht die “Wæthans”, aber dafür hatten Smith-Oppermans Schnüffel-Fritzen sie nun also doch geschnappt! — Wie die dasaßen und sie siegessicher angrinsten! Es war offensichtlich schon alles gelaufen! Der Sheriff unterschrieb da nur noch ihre Entlassungspapiere, und dann würden die Kerle mit ihr abziehen!

[i] Tolks – in der saxxan’schen Mythologie das Gegenstück zu Wesen wie Teufel, Troll, Kobold, etc.