Reafer erreichte Freitagabend gegen sechs endlich die Grenze nach South Carolina. Und obwohl sie sich von allen Hunden gehetzt fühlte, legte sie eine kurze Pause ein. Rhyan konnte nicht ohne.

Er war wieder etwas munterer, hatte aber, nachdem er den ganzen Tag im Dämmer verbracht hatte, völlig die Orientierung verloren. “South Carolina…”, sann er, “wie viel Kilometer sind das denn?”

Reafer seufzte unzufrieden. “Rund tausend.” Sie waren so langsam, dass die “Wæthans” jeden Moment um die Ecke kommen konnten!

“Hmpfh! Mehr nich?! — Wir sind doch schon ‘ne ganze Zeit unterwegs! Oder krieg’ ich das durcheinander?”

“Nee, nee! Stimmt schon! Seit eineinhalb Tagen juckeln wir jetzt schon in der Gegend ‘rum! — Reine Fahrtzeit: zweiundzwanzig Stunden!”

“Tausend Ka-Em! In zweiundzwanzig Stunden! — Na, fürs große Rennen haben wir uns ja grade nicht qualifiziert, was?!”

“Nee! Aber wie denn auch! Bei den Straßen! Und du würdest dich auch bedanken!”

Er konnte schon wieder grinsen. “Ker’! So langsam! — Stell dir mal vor: Vielleicht haben deine Kumpels uns sogar schon überholt!”

“Witzbold! — Und außerdem wär’ uns damit auch noch nicht wesentlich geholfen! Es ist mittlerweile nämlich noch ‘n weiterer Verein hinter uns her!”

“Ach?!! Ker’! Müssen wir beliebt sein! — Wer spielt denn jetzt noch mit?!”

“Polizei! Beziehungsweise meine Leute im Institut! Die scheinen mich zu vermissen! Und stell dir vor, was die glauben!”

“Na, was?”

“Dass  d u   m i c h  gekidnappt hast!”

Sie erzählte ihm von den Fernsehdurchsagen, und sie lachten sich erstmal eins.

Reafer wurde aber gleich wieder ernst. “Sag mal… Wirst  d u  eigentlich nicht auch irgendwo vermisst?!”

Rhyan wurde ruhig, überlegte. “Was haben wir heute? Freitag?”

“Ja. Siebter Januar…”

“Hm…”

Gestern Morgen, Donnerstag, hatte er ja einen Termin mit diesem Parker gehabt… Aber das bedeutete nichts! Es ging Parker nichts an, ob Controller Sadarka kam oder nicht. Und außerdem, so wie er in der vergangenen Woche in New York herumgeflitzt war… da war Parker sowieso dran gewöhnt, dass man nie wusste, wo er steckte. — Bis der auf die Idee kommen würde, dass da dieses Mal was nicht stimmte… Und dann war jetzt erstmal Wochenende: Wenn er sich da nicht meldete, das fand keiner merkwürdig! — Zu Hause würden sie zwar schon mit einem Anruf rechnen… Aber wenn er sich nicht meldete, dann nahmen die erstmal das Naheliegendste an, nämlich, dass er sich amüsierte…

Rhyan schüttelte den Kopf. “Nee! Vor Montag vermisst mich keiner!”

Nach einer Viertelstunde erklärte Reafer die Pause für beendet. “Wir müssen sehen, dass wir die Jäger wieder einholen!” witzelte sie und hetzte weiter. In der Abenddämmerung holperten sie nach South Carolina hinein. Sie befanden sich jetzt definitiv in der Süd-Sozietät, wo weiße Amerikaner den Ton angaben, im Gegensatz zum Afro-dominierten Osten und zum asiatisch geprägten Westen.

Wald und Gebirge, die südlichen Ausläufer der Appalachen, machten das Fahren schwerer und schwerer! Die Gegend wurde immer unbewohnter. Dabei passierten sie durchaus jede Menge Ortschaften, aber es waren alles Geisterstädte! Verfallene Häuser und Scheunen ragten düster und unheimlich ins aufziehende Mondlicht und erzählten stumme Geschichten von einstigen blühenden Landschaften, die an Wassermangel zugrunde gingen — von ihren Bewohnern, denen die Lebensgrundlagen wegbrachen, die immer weniger wurden — dezimiert von Abwanderung, von Epidemien und vom Krieg…

Gegen zehn erreichten sie einen riesigen See, beziehungsweise den Absperrzaun, der die militärisch-gesicherte Niemandsland-Wasser-Sicherungszone rings herum markierte. Sie mussten dicht an der Grenze nach Georgia sein. Rhyan hatte wieder stärkere Schmerzen und behauptete, er spüre ein Sickern, also Blut! Reafer fügte sich zähneknirschend drein und suchte einen Platz zum Übernachten. Auf einer Anhöhe, die über den See blickte, versteckte sie den Wagen zwischen Felsen und Gebüsch und sah sich Rhyans Wunde an. Er hatte recht gehabt: Sie blutete wieder! Reafer versorgte die Verletzung, so gut es ging, gab neuen Reiniger und Entzündungshemmer in die Wunde, Blutstiller und -aufbauer, sowie Heilbeschleuniger. Als sie ihm frischen Schaumverband aufsprühte, kippte er weg in die Ohnmacht.

Sie lag neben ihm im Wagen und konnte lange nicht schlafen, obwohl sie so übermüdet und ausgepowert war. Mit einem Angstkloß im Magen starrte sie auf den See. Ein ungemütlicher, kleiner Mond mit harten Umrissen drang durch aufgetürmte Wolken und überzog die weite Wasserfläche mit weiß-bläulichem Licht. Ein paar Schneeflocken taumelten herunter. Ringsum ‘brüllende’ Stille! Kein Windhauch ging, und nicht eine Tierstimme, nichtmal ein kleiner Vogel, war zu hören, und selbst Insekten schien es hier keine zu geben!

‘Wer weiß…’, dachte Reafer, ‘Vielleicht sind sie schon ganz in unserer Nähe.’