Vorsichtig, im ersten Gang, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, näherte der “Mayfair” sich dann dem Geisterhafen. Sie stellten Vermutungen an über die verlassene Stadt.

“Wenn das ‘n Fischereihafen war…”, sinnierte Reafer, “dann isses eigentlich logisch, dass die Leute abgehauen sind! — Seefisch ist doch verboten, weil er giftig ist! Und wenn sie keine Fische mehr fangen durften… Was sollten sie dann noch hier!”

“Ja, wahrscheinlich!” nickte Deane. “Diese Geisterstädte… Eigentlich unheimlich, wenn man so überlegt… Habt ihr euch schon mal ‘ne Landkarte von vor fünfzig Jahren angesehen? — Mal abgesehen davon, dass das Land weniger geworden ist, durch den gestiegenen Meeresspiegel… Aber auch was den Rest betrifft: Da steh’n glatt viermal so viel Orte drauf als heutzutage! Alles verlassen und ausgestorben!”

“Hm…” machte Sirrah, der wieder an den stinkenden Supermarkt dachte. “Ich glaube, Port Rosa ist keine, äh, ‘normale’ Geisterstadt… Hier muss es noch eine andere Ursache geben: Dieser Ort scheint, äh, Hals über Kopf verlassen worden zu sein! — Oder wie erklärt ihr euch die, äh, Tatsache eines Supermarktes mit vollgefüllten Regalen?! Selbst verderbliche Ware muss noch, äh, angeliefert worden sein, kurz bevor man das, äh, Weite gesucht hat!”

“Vielleicht hat das was mit diesem Reaktor-Unfall von vor ‘n paar Jahrzehnten zu tun…” bot Rhyan an. “Da iss doch ‘n Reaktorkern in ‘nem Atomkraftwerk runtergeschmolzen! Das Biest hat wochenlang gebrannt, mit dreitausend Grad! Und alles iss radioaktiv verseucht gewesen!”

Deane schüttelte den Kopf. “Das war aber nicht hier, sondern weiter nördlich!”

“Und außerdem… Nach ein paar, äh, Jahrzehnten… da wäre von diesem, äh, fauligen Zeugs in den Kühlregalen gar nichts mehr da! Die Leute können, äh, noch nicht lange weg sein!”

Sie wurden des Spekulierens müde. Rauskriegen würden sie’s ja doch nicht! Es gab so viele mögliche Ursachen für diese Geisterstädte. — Weltweite Armut und Verkommenheit, weiteste Landstriche menschenleer und unbewohnt, weil die Landschaft zerstört war, entweder von Katastrophen, Raubbau oder Gift! Von dem, was unter freiem Himmel wuchs, konnte niemand mehr leben, ohne sich zu vergiften; Regenwasser musste man meiden, wenn man keine Hautschäden kriegen wollte… Es war eigentlich kein Wunder, dass es überall diese toten Geisterstädte gab — vor einem halben Jahrhundert noch blühende Orte, voll von Leben, Geschäften, Wohnhäusern, Menschengewimmel, Industrieanlagen… Jetzt nur noch öde, gespenstische Ruinen, die in vollkommener Stille dem Verfall entgegendämmerten. Noch einmal fünfzig Jahre später würden sie vollständig verschwunden und vergessen sein, als hätte es sie nie gegeben!

03 Gespenster!                                                                     

Rhyan fand die Versorgungsleitungen für den Treibstoff. Es war ein ausgeklügeltes System, das die Schiffe gleich an ihrem Liegeplatz mit Diesel versorgte, ohne dass Tankwagen kommen mussten. Aber natürlich war alles verrottet! Die vier mussten ganz schön schuften, bis sie die verrosteten Klappen aufkriegten und die mürben Schläuche und unzuverlässigen Ventile halbwegs in Position und Funktion bringen konnten. Aber schließlich konnten sie das Schiff auftanken, und es kamen tatsächlich noch ein paar Liter zusammen. Allerdings lief durch die vielen undichten Stellen auch jede Menge nebenher heraus. Das mussten sie eben in Kauf nehmen. Immerhin halbvoll kriegten sie den Tank doch noch. Für ein paar Seemeilen würde es schon reichen. “Mexiko iss ja gleich umme Ecke!” fand Rhyan optimistisch.

Anschließend besuchten Reafer und Rhyan nochmal den grauenvollen Supermarkt und deckten sich mit Getränken und Lebensmittel­konserven ein. Mit grünen Gesichtern kehrten die beiden zum Auto zurück, das verladebereit an der Kaimauer stand. — Deane desinfizierte jede der Dosen.

Schweigend und rauchend saßen sie dann am Kai und warteten darauf, dass die Flut hoch genug steigen würde, damit sie den Wagen aufs Schiff kriegen konnten. — Um sie herum Dunkelheit und beklemmende Stille. War der ausgestorbene, verlassene Beton dieses Geisterhafens schon im Sonnenlicht bedrückend gewesen, mit seinen schwarzen, toten Fensteröffnungen… Jetzt, in der Dunkelheit, schnürte es einem alles zu! Tiefschwarz ragten die Gebäude in den Nachthimmel. Manchmal reflektierte eine Fensterscheibe das Mondlicht. Dann blitzte es auf und sah für eine Sekunde so aus, als ob jemand in einem Zimmer das Licht einschaltete — ein lebloses, kaltes, gespenstisches Licht! Wind strich durch die toten Betonschluchten, keuchend und seufzend. Türen dengelten in den Angeln. Irgendwas knarrte und knackte. Wasser gluckerte und schmatzte leise vor sich hin. Es klang wie bösartiges Gekicher.

Die vier wartenden Gestalten unten am Kai waren, ohne es bewusst wahrzunehmen, eng zusammengerückt. Eine kneifende, fast schmerzende Anspannung hatte von ihnen Besitz ergriffen. Angestrengt, mit ‘allen Antennen ausgefahren’, lauschten sie in die Nacht. — Wenn jetzt, in letzter Minute, die Polizei oder die Jäger noch aufkreuzten…!

Plötzlich zuckte Reafer auf. “Hört mal! Was ist das?!!” flüsterte sie erschreckt. Sie packte Rhyan am Arm. “Mensch! Da reden doch welche!!”

“Ach, Unsinn!” winkte Deane ab.

Trotzdem lauschten sie alle.

Aber es klang wirklich wie Stimmen. Eine leise murmelnde Unterhaltung! Es kam aus der Richtung, wo sich die Gebäudefront der Hafenstraße wie ein riesiger tintenschwarzer Block gegen das Mondlicht reckte. Sehen konnte man natürlich nichts. Dort drüben lag alles im schwärzesten Schatten. — Aber hören konnte man es! Ganz eindeutig! Je konzentrierter die vier lauschten, desto deutlicher klang es nach menschlichen Stimmen!

Sie waren ja alle nun wirklich keine ‘zartbesaiteten’ Naturen… Aber jetzt kroch ihnen doch eine Gänsehaut über den Rücken! — Vielleicht wurden sie schon seit Stunden beobachtet…!

“Ab in den Wagen!” kommandierte Sirrah mit heiserem Flüstern.

“Wir müssen aber rauskriegen, was da los ist!” protestierte Reafer. “Wir können doch nicht einfach wie die Schafe abwarten, bis die sich entschließen, über uns herzufallen!”

Rhyan nickte. “Jau! Hast Recht! Ich geh nachkucken! Kommt einer mit?”

“D u  gehst ganz bestimmt  n i c h t ! Mit deinem Korsett!” setzte Deane ihn in Kenntnis. “Ich geh!”

“Und ich komm’ mit!” beschloss Reafer.

Sie huschten los. — Hinter sich hörten sie das Zischen von Strahler-Entsicherungen.

Mit alleräußerster Vorsicht, im Schneckentempo, schlichen sie über die Kaistraße, in die Richtung, aus der das Murmeln kam. Nach einer Ewigkeit erreichten sie die Gebäudefront. Die Quelle der Geräusche musste sich hinter der nächsten Hausecke befinden, in einer der vom Hafen abführenden Seitenstraßen… Eindeutig murmelten da welche, untermalt allerdings von Keuchen und Seufzern…

Seufzende und keuchende Polizisten oder Jäger?! — “Das klingt eher nach ‘nem Liebespaar!” raunte Deane Reafer ins Ohr. “Betätigst du dich öfters als Spanner?!”

“Blödmann! — Außerdem ziemlich pervers, als Liebespaar  h i e r h e r  zu kommen!”

“Das finde ich allerdings auch!”

Sie lauerten um die Ecke. Zu sehen war nichts. Und plötzlich konnte man auch nichts mehr hören. War es die falsche Ecke?! Sie wollten schon umkehren… Da war es wieder zu hören… Ein leises Brubbeln, Seufzen… direkt vor ihnen! Reafer zuckte zusammen und unterdrückte einen Schrei. Beide starrten auf die Hauswand vor ihnen. Eine Tür stand halb offen. Dahinter tiefe Schwärze…

Plötzlich lachte Deane laut auf. Reafer zuckte wieder zusammen. “Ouh Mann, Cracks! Du bist vielleicht so’n Spökenkieker!!”

Wind bewegte die Tür. Sie ächzte in den Angeln und schubberte über herumliegende Steine und Krempel. Diese kullerten mit dumpfem Geräusch hin und her… eine immer wiederkehrende Bewegung… Hin… und wieder zurück… Dazu der leere Hausflur, die Betonwände… Das wirkte wie ein Schalltrichter!

Die beiden sahen sich an. Auch Reafer lachte jetzt befreit auf. “Na, es hat sich aber doch wirklich verdächtig angehört, oder etwa nicht?! — Und mit all den Leuten, die sich für uns interessieren… Da müssen wir schließlich misstrauisch sein!”

“Ja, sicher! Ich bin auch froh, dass es nur ‘n paar… ‘Gespenster’… sind! Die sind mir allemal lieber als unsere ‘Kumpels’ aus Fleisch und Blut! — Na, komm! Dann können wir ja beruhigt wieder gehen! Vielleicht ist die Flut sogar schon hoch genug, dass wir die Karre aufs Schiff kriegen…”

“Ja, gleich. Warte nochmal eben…” Reafer betrat neugierig die schwarze Tiefe des Hausflurs.

“Nu komm doch! Was willste denn da drin in der ollen Muffbude! Da gibt’s doch nix zu sehen!”

“Mag ja sein… Aber ich wollt’ immer schon mal ‘ne Geisterstadt aus der Nähe bekucken…”

“Ouh Mann! Dass Weiber immer so neugierig sein müssen!!” Deane seufzte auf, folgte ihr aber doch lieber in die Tiefe des Hauses. Bei ‘Cracks’ wusste man ja nie, was die für Kalamitäten anzog… “Ich wünschte, da drin gäb’s ‘n ‘Dracula’ — der dir seine ‘Überbeißer’ in ‘n Hintern hackt!” erklärte er gallig.

Im Dämmerschein der Taschenlampen präsentierte sich ihnen eine eigentlich ganz normale Mietskaserne. Nur eben verlassen und verwahrlost. Und ziemlich übelriechend!

Reafer schnupperte. “Das ist derselbe komische Geruch wie der in den Straßen! Aber viel stärker! — Hast  d u  ‘ne Ahnung, nach was das riecht?”

Deane schüttelte den Kopf. “Nee! Ich weiß nur, dass das nicht beruhigend ist!”

Im ersten Stock stand eine Wohnungstür auf. Der Gestank war hier so stark, dass einem die Luft wegblieb! Reafer schüttelte den Kopf. “Kuck mal, Deane! Die Leute haben nichtmal die Wohnungen abgeschlossen!” befremdete sie sich, dumpf hinter der vor Mund und Nase gehaltenen Hand. “Die müssen ja in Panik abgehauen sein!”

“Das würd’ ich auch am liebsten!” grummelte Deane. Widerstrebend folgte er ihr in die Wohnung. Er kannte ‘Cracks’ inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er sie doch nicht davon abhalten konnte. Der Gestank wurde ihm immer unheimlicher…

Sie stolperten durch umgefallene Möbel und Gerümpel. Staub wirbelte auf. Ein kleines Tier huschte aufgescheucht in die Ecke.

Dann sah Deane, was los war!!

“STOPP!! NICHT WEITER!!” Er packte Reafer am Arm und hielt sie fest.

Von einem Bett in der Ecke sprang, aufgestört durch den Lichtkegel, ein Tier herunter. Und im Bett lag… eine Leiche! — Noch nicht verwest, aber aufgedunsen und mit beginnendem Zerfall. Zwischen Arm und Brust klaffte ein Loch, offenes Fleisch: das Tier!

Reafer stand wie angenagelt und kämpfte mit dem Würgen.

Deane näherte sich vorsichtig, bis auf etwa zwei Meter. Aufmerksam betrachtete er den Toten, versuchte eine Diagnose. Er schluckte. “Meine Scheiße!” fluchte er plötzlich im Flüsterton los. “Cracks! Geh da bloß nicht ran!!”

“Ach?! Und dabei wollte ich ihm gerade die Hand schütteln!” ironisierte Reafer würgend.

Deane fuhr abrupt herum, rannte an Reafer vorbei, und sie hörte, wie er durchs ganze Haus stürmte, Türen aufriss und wieder zuschlug. Dann war er wieder zurück. “WEG HIER!!!” brüllte er. “UND FASS’ BLOSS NIX AN!!!”

Sirrah und Rhyan sahen erschreckt, wie Deane auf den Kai zu gerannt kam. Panisch, als sei der Leibhaftige hinter ihm her! Hinterdrein stolperte ‘Cracks’. Sie brachten augenblicklich ihre Strahler in Anschlag. — Aber sie sahen niemanden, der die beiden verfolgte.