Der zentrale Computer des “Registration Office” ‑ des Einwohnermeldeamtes ‑ war bald gefunden. Deane brach in höhnisches Gelächter aus, als er die alte Maschine sah.

Während Deane Schmiere stand, setzte Reafer sich vor den Computer. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie sich Eingang in die Systeme verschafft hatte. Und ein paar weitere Handgriffe, um die Datenverwaltung so umzuprogrammieren, dass Fotos abgerufen werden konnten. Rasterfotos sausten in endlosen Spalten am Monitor runter. Sie brauchten vier Personen, die ihnen einigermaßen ähnlich sahen… Deane sah von der Tür aus zu und half entscheiden, ob die Ähnlichkeit ausreichte. Aber es war gar nicht so einfach! Es schien in Corpus Christi niemanden zu geben, der einem von den vieren ähnlich sah… Dafür aber hunderte von Personen, die nicht mehr zu existieren schienen! Bei etwa einem Drittel des Datenbestandes der dürre Vermerk: “ENA”, für: “existence not acknowledged any more” — “Existenz nicht mehr festzustellen”. — Menschen, die in der verarmten Stadt nicht mehr leben konnten und ihr Glück anderswo versucht hatten, wahrscheinlich in den wenigen großen Städten wie Dallas oder Los Angeles, mit ihren gigantischen Slum-Gürteln. Dort hatten sie sich vermutlich ebenso wenig angemeldet wie sie sich hier abgemeldet hatten, und waren so von keiner Behörde mehr feststellbar.

Reafer fiel es wie Schuppen von den Augen. “Mensch, Deane! Ist dir eigentlich klar, dass es in den NAAS[i] eine gewaltige Grauzone geben muss von Personen, die zwar irgendwo existieren, die aber kein Mensch registrieren kann?!”

Deane nickte. “Und ob mir das klar ist! Denk doch an die vielen Geisterstädte, die es gibt! Die Leute sind ja nicht alle gestorben… Die sind einfach irgendwohin verschwunden, in die großen Städte, wo kein Mensch sie mehr finden und registrieren kann! — Und hier in Corpus Christi scheint’s auch so zu sein! Ich schätze, so fängt das an, wenn ‘ne Stadt zur Geisterstadt wird: Erst verschwinden ‘ne Menge Leute… die verbleibende Stadt wird… ja, sowas wie ‘ausgehöhlt’… immer weniger Lebensmöglichkeiten… Und irgendwann packt der Rest geschlossen seine Klamotten und haut ab! — Wenn wir in zehn Jahren wieder hierher kommen, ist Corpus Christi vielleicht auch ‘ne Geisterstadt…”

Reafer schauderte. Es war unheimlich!

“Aber für uns ist der Umstand ja günstig!” fand Deane. “Was glaubste, wie schwer die Polizei sich mit der Fahndung tut, wenn sie derart unzuverlässiges Datenmaterial haben!”

Sie wählten schließlich vier Fotos aus, deren abgebildete Personen und biometrische Daten den vieren ganz entfernt ähnlich sahen. Genauer durfte man allerdings nicht hingucken! Aber Reafer achtete zusätzlich darauf, dass die Fotos von schlechter Qualität waren “Dann sagen wir eben, es sind alte Fotos. Immerhin verändert man sich ja auch…” erklärte sie befriedigt. — Der Rest war dann einfach. Mit ein paar Tastendrückern wurden vier ganz echte Pässe ausgespuckt, ebenso vier echte Führerscheine. Einen Stempel fanden sie auch, und Deane spielte den “Verwaltungsbeamten” mit einer genial geschwungenen Unterschrift. — Das war geschafft!

Jetzt fehlten noch Wagenpapiere. — Im vergammelten, muffigen Treppenhaus gab es zumindest Wegweiser. Das DMV, das “Department of Motor Vehicles” ‑ die Kfz-Meldestelle ‑ war ausgewiesen: sechste Etage.

“Wie praktisch, dass die alle Registraturen unter einem Dach haben!” freute sich Reafer. “Stell dir mal vor, wir müssten nochmal Rätsel raten mit dem ollen Adress-Computer und der Karte!”

“Ja, und diese Anzeige hat sogar alle Buchstaben!”

Sie schlichen sich nach unten, Etage um Etage. Licht machten sie natürlich keins an.

An der der Tür der sechsten Etage stand “Bauamt” — Nix “Kfz-Meldestelle”!

“Wollen die uns hier verarschen?!!” Reafer war nahe dran, einen Tobsuchtsanfall zu kriegen!

Deane, nicht weniger sauer, starrte ungläubig auf die Wegweiser-Tafel, die es natürlich auch in dieser Etage gab.

Plötzlich lachte er los. “Ey, komm her, Cracks! Ich hab sie wiedergefunden!”

“Kfz-Meldestelle: neunte Etage” stand da.

“Wahrscheinlich saß auf der Tafel in der andern Etage die ‘9’ lose und hat sich umgedreht. — Schon  mal was von ‘Murphys Gesetz’ gehört?”

“Ja: Was schiefgehn kann, das geht auch schief!” Reafer schickte einen genervten Augenaufschlag gen Himmel. “Also wieder nach oben!”

In der neunten Etage waren sie richtig. Wieder das Spiel am Computer, das Heraussuchen eines halbwegs passenden Auto-Modells… ein Stempel, eine Unterschrift… Und schon hatten sie echte Autopapiere.

So! Und jetzt ab dafür!” verlangte Deane schließlich. “Geburtsurkunden und Sportabzeichen schenken wir uns! — Dass das auf Behörden immer so lange dauern muss!”

Sie befanden sich gerade auf der Treppe vom ersten Stock zum Erdgeschoss, da passierte es! Sie hörten eine Tür quietschen! Jemand schlurfte herum, fluchte und brummelte. Dann Getöse, als ob der geheimnisvolle Jemand gegen etwas gestoßen war. Lautes Fluchen. Reafer und Deane blieben erstarrt stehen. — Dieses Amt schien auch nachts stark frequentiert zu sein…

Dann hörten sie auch noch einen Hund winseln und knurren.

“Das muss ‘n Nachtwächter sein!” raunte Deane Reafer ins Ohr.

Allerdings! Sie hörten, wie der Unbekannte lallte: “Sch-sch, Hasso!” Der Hund schniefte. “J-jetss m-müssen wir e-e-rss noch ‘ne Ru-Runne machen! N-na-nachher nehm’ wir no-noch ‘n Sch-Sch-Schluck…”

“Oha! Der hatte ‘n ‘flüssiges Abendessen’!” murmelte Reafer. Sie entspannte sich bereits wieder. — Mit einem sturzbesoffenen Nachtwächter würden sie ja wohl noch fertigwerden…

Dann flammte das Licht in der Eingangshalle auf. Sie sahen den Mann mit seinem Hund, einem großen Schäfer. Der Mann war schon älter und sah unbeschreiblich verkommen aus. Er wankte und schwankte, und in der Hand hielt er eine Schnapsflasche.

Aber der Hund! Der bemerkte die Eindringlinge sofort und raste mit Gebelfer die Treppe hinauf. Er kam allerdings nicht weit, sondern rutschte auf den glatten Stufen aus und polterte jaulend wieder nach unten, wo er zunächst liegenblieb und benommen den Kopf schüttelte. Reafer und Deane kamen hinter ihm her. Als sie unten vor der Treppe standen, rappelte der Hund sich wieder auf und wandte sich wieder den Eindringlingen zu…

Aber er biss nicht und knurrte auch nicht, sondern… wedelte mit dem Schwanz und leckte die beiden freundlich ab. — Und er hatte eine Schnapsfahne! Der Hund war genauso sturzbesoffen wie sein Herrchen und konnte sich nur mühsam auf allen Vieren halten!

Der Nachtwächter stolperte im Foyer herum und glotzte blöde aus blutunterlaufenen Augen zu den beiden rüber, die da von seinem Hund angesprungen und abgeschleckt wurden. Reafer und Deane starrten zurück.

Das Gesicht des Säufers verzog sich zu einer Grimasse. Wahrscheinlich sollte es ein Lächeln sein. Und er lallte: “Ach, hähä, D-D-Di-Direktor Eggle-Eggle-Eggle… ach, Egglestone… nee, Stoneeggle… Ach, iss ja e-e-egal… N-Nnaaaa?” Er bleckte seine Zahnruinen und zeigte schwankend auf Reafer. “M-M-Mal w-w-wieder… hähä… ‘Ü-Üb-Überstunden’… gemacht? Nett! Sieht w-w-wirkl-l-lich n-nett aus, Ihre Pup-pup-puppe, Direkter… Steggle-Stoggle… ach…”

“Jaaa, ääääh…” machte Deane und musste sich, ebenso wie Reafer, das Lachen verbeißen. Der Hund hechelte und wedelte mit dem Schwanz und versuchte an Reafer hochzuspringen. “Pfeifen Sie doch mal Ihren Hund zurück!” verlangte er im Kommandoton.

“Ha-Hasso! Hierher! S-sei d-doch nicht so unartig! Dassiss d-d-doch bl-bloß Direkter Steggle-Stoggle…”

Der Hund drehte sich tatsächlich um und machte sich schwankend auf den Weg zu Herrchen. Auf halber Strecke wurde das Tier jedoch von Müdigkeit übermannt. Zuerst rutschten seine Vorderläufe unter ihm weg, das Hintergestell ragte noch ein paar Momente in die Höhe, gab schließlich aber auch nach… Und dann lag er da, mitten in der Eingangshalle und schnarchte wie “sechs Bauarbeiter”.

Der Haumeister griente Deane an. “Ha-Hasso wird l-l-langsam alt, Herr D-Direkter Stone-Stoggle-Steggle… S-S-Soll ich S-S-Sie rausl-l-lassen?”

“Bitte, ja!” meinte Deane.

So kam es, dass die beiden Eindringlinge vom Nachtwächter persönlich durch den Haupteingang ‑ eine Drehtür ‑ auf die Straße gelassen wurden. “W-wiedersehn, Direkter Steggle-Stoggle-Oggle-Eggle-ach-was-solls…” krächzte er hinter den beiden her, denen von seiner Schnapsfahne ganz gammelig wurde.

“Ja, ja!” machte Deane unwirsch und schob den Schnapsbruder schnell wieder in die Drehtür zurück, damit er ihnen nicht auch noch auf die Straße nachlief.

Reafer gab der Tür noch einen ordentlichen Schwung.

Das war fies, denn für den Nachtwächter ergab sich jetzt das Problem, aus der Drehtür wieder ins Foyer zurückzukommen. Wie in einem Karussell drehte er Runde um Runde und fand den Ausgang nicht! Als Reafer und Deane um die Ecke bogen, sahen sie ihn immer noch seine Runden drehen. Und dabei fluchte er die ganze Straße zusammen.

[i] NAAS – “North American Associated States” – Nachfolge-Gebilde der USA

 [H1] Eventuell nach hinten: Kommentar von Sirrah