02 Das wilde Land da draußen
03  Ein neuer Gott
04 Angst vor der Neuen Welt
 05  Merkwürdige Frauen
 06  Am Ende der Alten Welt
07  Die Abzweigung

01 Das Universum ist unendlich.

Und nicht nur das: Auch die Anzahl von Universen ist unendlich. Während der Pfeil der Zeit in die Zukunft fliegt, geschieht es in jedem Augenblick, dass in der Abfolge der Ereignisse Alternativen entstehen: Abzweigungen an der Zeitstraße. Jede Alternative bedeutet eine neue, eine andere Entwicklung: ein neues, ein Parallel-Universum!

Da es zu jedem Zeitpunkt unendlich viele parallele Ereignisse gibt, gibt es auch unendlich viele parallele Alternativen: unendlich viele Paralleluniversen. Jedes einzelne ist eine mögliche Antwort auf die Frage:

“Was wäre, wenn…?”

Eine davon, nur eine einzige Alternative wollen wir herausgreifen.

In was für einem Parallel-Universum würden wir uns befinden, wenn im Jahr 520 AD die Geschichte eine andere Abzweigung genommen hätte als es in unseren Geschichtsbüchern steht?

Dazu müssen wir uns an die Abzweigung begeben, besser noch ein Stück davor. Machen wir eine Zeitreisen-“Kamerafahrt” ins fünfte, sechste Jahrhundert der christlichen Zeitzählung. Wohin? Westeuropa.

Das Ende eines Reiches

Wir scheinen uns im Römischen Reich zu befinden: eine wohlgeordnete Zivilisation mit Provinzen, Städten, Dörfern… Verwaltung, Polizei, Kultur… vom sonnendurchglühten Süden Siziliens bis hinauf an die unwirtlichen Küsten Mittelenglands: dieselbe Verwaltungssprache, dieselben Gesetze, dieselbe Ordnung.

Aber der Schein trügt. In Wirklichkeit hat das weströmische Reich gerade sein Ende erreicht.

Der letzte weströmische Kaiser, Romulus Augustulus, wurde am 23. August 476 abgesetzt. Es war die Quittung für das Herumtricksen seines Vaters Orestes. Dieser war Oberbefehlshaber der römischen Armee, die längst nicht mehr nur aus Römern bestand. Die Elite-Einheiten der römischen Streitkräfte waren germanische Truppen. Sowas ähnliches wie Fremdenlegionäre. Als Lohn für ihren Dienst erwarteten sie Land in Italien. General Orestes hatte ihnen das auch pflichtschuldigst versprochen, war aber gar nicht in der Lage, seine Versprechungen zu halten: Land gab es nämlich keins!

Der Heerführer der solcherart behumsten germanischen Hilfstruppen, Odoaker, konnte der Sache wenig Humor abgewinnen, und mit Diplomatie hatte er es auch nicht: Orestes wurde einfach einen Kopf kürzer gemacht, und sein Sohn, das “Kaiserchen”, abgesetzt und – als Zeichen der Humanität – nur unter Hausarrest gestellt. Dies allerdings für den Rest seines Lebens.

Odoaker ist jetzt der Boss in Rom. Er besorgt sich das Einverständnis des oströmischen Kaisers, Zenon, und darf sich “König Westroms unter oströmischer Ägide” nennen.

Ein weströmisches Kaiserreich existiert nun nicht mehr.

Mit seinem Untergang versinkt nicht nur eine Epoche in der Geschichte, sondern eine ganze Zivilisation. Ein gewaltiger Umbruch wird in Westeuropa das Unterste zuoberst kehren!

Odoaker regiert keine zwanzig Jahre. Nach anfänglicher Fortüne verliert er später Schlacht auf Schlacht gegen den Ostgotenkönig Theoderich. Nicht von ungefähr, denn Theoderich wird von Byzanz, vom oströmischen Kaiserreich, unterstützt und hat stets die besseren Karten.

Selbst das Nachgeben, 493, hilft Odoaker nichts mehr: Theoderich, eine linke Bazille durch und durch, willigt zwar in einen Vergleich ein, ist sich aber nicht zu schade, Odoaker beim Versöhnungsmahl eigenhändig umzubringen.

Wenn eine Zeitenwende passiert, kann man zwei Sorten von Menschen klar unterscheiden: Die einen, wie Odoaker, gehören noch in die alte Zeit und gehen mit ihr unter. Die anderen sind bereits Angehörige der neuen Zeit und werden, wie man so sagt, nach oben gespült, weil sie es verstehen, die neuen Paradigmen anzuwenden.

So einer ist Theoderich. Er regiert in ganz Südeuropa und schafft es, ein richtiges Reich aufzubauen. Nicht zuletzt deshalb, weil er erkannt hat, dass die Zeiten sich geändert haben: dass der alte Gegensatz zwischen Römern und Germanen – hier die Zivilisierten, dort die barbarischen Eindringlinge – so gar nicht mehr existiert. Also schafft er Frieden zwischen beiden Volksgruppen, und damit ist Ruhe im Karton, Verzeihung, in seinem ganzen Reich.

Dann können wir Theoderichs wohlgeordnetes Reich ja guten Gewissens verlassen. Begeben wir uns nach Norden, über den Rhein.

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02 Das wilde Land da draußen

Hier spielt eine ganz andere Musik! Dieser Teil Europas befand sich noch nie innerhalb der Grenzen des Römischen Reiches. Für einen Bürger Roms war am Rhein die sogenannte “zivilisierte Welt” zuende. Germanien! — Auch wenn die Germanen inzwischen, im 5. Jahrhundert, über ganz Europa verteilt leben, aber hier, zwischen Rhein und Weser, und erst recht zwischen Weser und Nordsee, und noch weiter nach Norden… Hier, im germanischen Kernland, befindet sich das “Schwarze Loch” der Zivilisation! (Dabei stimmt das so gar nicht. Aber dazu kommen wir noch…)

Mit Ausnahme des vorübergehend römisch besetzten Britannien hatte die nordeuropäische Region die Segnungen der Römischen Zivilisation nie erfahren. Es gibt hier keine Städte, keine Fernstraßen, keine Gutshöfe oder Plantagen, keine überregionale Verwaltung mit einheitlicher Behördensprache. Nur Wald! Unendlich! Dicht und dunkel und wild! Mitten drin lugen vereinzelt strohgedeckte Dächer kaum sichtbar aus der endlosen grünen Einsamkeit heraus: winzige, versteckte Dörflein, die sich in den Schutz des Waldes kuscheln wie in ein Nest.

Pfade, fast unsichtbar, ziehen sich durch die Wildnis, verbinden Dorf mit Fluss, und diesen mit dem nächsten Dorf. Und mit den Heiligtümern und den Thingplätzen, wo die Menschen sich versammeln. — Kein Römer hatte je Einblick in diese Welt!

Grenzen und politische Gruppierungen gibt es aber natürlich auch hier: Sie folgen den alten Stammesordnungen. Nur langsam werden aus vielen kleinen, miteinander verfeindeten Stämmen weniger, aber größere und immer noch miteinander verfeindete Verbände, und daraus wieder Reiche. Kleine Reiche natürlich, verglichen mit Theoderichs Reich. Und auch sie sind nach wie vor alle miteinander verfeindet, jeder gegen jeden. Also haben wir eine unendliche Abfolge von Kriegen und Machtverschiebungen: Größere und kleinere Reiche entstehen, bekämpfen sich, gewinnen Macht, verlieren sie wieder, und verschwinden wieder in der Versenkung der Geschichte, um den nächsten Platz zu machen.

Der Unterschied zwischen Theoderichs adrettem Südreich und dem wilden europäischen Norden besteht auch in der Religion. Durch die letzten Jahrhunderte des weströmischen Reiches zieht sich der Glaubenswechsel: die alten Götter weichen dem jungen, vitalen Christentum.

Um 500 beginnen im südlichen Europa die Christen allmählich die Mehrheit zu bilden. Durch die gesamte Kultur geht ein tiefgreifender Wandel. Die Stadtbilder verändern sich: Aus dem jahrtausendealten Forum im Zentrum der Stadt, mit seinen Tempeln und Versammlungshallen, wird ein Marktplatz mit einer Kirche, deren Turm die gesamte Stadt überragt.

Hinter dem Rhein ist der Verlauf anders. Hier läuft die Christianisierung gerade an. Sie verläuft nicht geradlinig, sondern in mehreren Wellen, und es gibt jede Menge Rückschläge.

496/497 besiegt der Frankenkönig Chlodwig die Alemannen. Wie es der Zufall wollte, war Chlodwig während des Krieges unzufrieden mit der Hilfe seiner alten Götter gewesen und hatte vorsorglich zusätzlich diesen neuen Christus noch um Beistand angerufen. Mit Chlodwigs Sieg war die Wirksamkeit des “neuen Gottes” erwiesen. — Dieses Ereignis gilt in unserem Universum bis heute als der “Startschuss” für die Christianisierung Nordeuropas.

Aber nicht etwa, dass man sich das als strahlenden Siegeszug vorstellen muss… Unendlich mühselig quälen kleine Mönchsgruppen sich durch die Wälder und versuchen an geeigneten Plätzen Klöster zu gründen oder kleine Dorfkirchlein zu errichten. Es wird sich nicht unähnlich der Arbeit heutiger Missionare bei Amazonas-Indianern abgespielt haben: Spagat zwischen dem Glauben und einem eitlen und eingeschnappten Häuptling nebst dem (zu Recht) misstrauischen Schamanen… zähe Verhandlungen darüber, ob das Christusbild einfach neben die Heiligtümer von Wotan, Donar und dessen Freunden aufgestellt werden soll, oder ein eigenes Kirchlein bekommt… störrische Beweisforderungen in Form eines augenblicklichen Wunders… mutwillige Proben, ob dieser Christus den Mönchen auch dann hilft, wenn man sie erschlägt…

Aber irgendwie schaffen diese in den Augen der Germanen merkwürdigen bescheuerten Kerle es doch, bekannt zu werden. Ob es ihre Beharrlichkeit und Ausdauer ist, ihre bedingungslose Opferbereitschaft, die Eindruck macht… oder irgendwas an dem Glauben, den sie vertreten… Oder ob es auch bei den Germanen selbst eine Ursache gab, Stichwort “Götterdämmerung”… Wir wissen es nicht.

Tatsache ist, dass man auch im germanischen Wald ganz allmählich neugierig wird. Dieses Christentum – schließlich kommt es aus dem Süden, wo alles fortschrittlich und modern ist – scheint alles in allem nicht uninteressant…

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03 Ein neuer Gott

Das sollten wir uns aus der Nähe betrachten. Machen wir einen weiteren “Kamera-Zoom” in die Nordsee-Region, mit der Nordsee als Mittelpunkt, und drum herum die Küsten: rechts Schleswig Holstein und Dänemark, unten Friesland, links Britannien.

Lassen wir die Zeitskala einrasten im Jahr 500.

Wir finden viele kleine “Königreiche” vor. Das darf man sich nicht so vorstellen wie etwa den Begriff “Königreich Belgien”. Es sind kleine Territorialeinheiten, die kleinsten nicht größer als bei uns der Landkreis einer mittleren Kreisstadt. Gliederungskriterium der “Königreiche” ist der jeweilige Stamm: Ein kleiner Stamm hat ein kleines, ein großer Stamm ein großes Königreich…

Die größten Königreiche sind: an der südlichen Küste entlang, von Belgien bis Schleswig Holstein: Groß-Friesland unter König Finn Folcwalding — im Nordwesten die wilden Jüten unter dem ebenfalls ziemlich wilden Gefwulf — im heutigen Schleswig Holstein und Niedersachsen ist der wüste König Hroðgar Chef über die gleichfalls wüsten Sachsen — und zum Binnenland hin, im Süden, die Franken; dort haben sie König Clovis.

Der ist gerade dabei, sich mit diesem Christus näher zu befassen (Die Mönche haben erzählt, dass der Irre, wenn er eins in die Fresse kriegt, nicht zurückgibt, wie es sich gehört, sondern die andere Backe zum auch noch Draufhauen hinhält! Das hat irgendwie was Unanständiges, macht aber alles in allem auch neugierig…).

An der linken Küste der Nordsee, auf der britischen Insel, herrschen die Könige Oswin, Offa I und Cissa über Essex, Sussex und Mercien, ganz neu gegründete Reiche der Angeln, Sachsen und Jüten, mitten zwischen den Kelten: Letztere feinsinnige, sensible, schönheitsbewusste Leute, deren Mentalität sich merklich von derjenigen der Germanen unterscheidet…

Die Germanen leben erst seit einem halben Jahrhundert auf der Insel. — Zu verdanken haben sie die neue Heimat den Römern, beziehungsweise deren Abzug. Die einheimischen Kelten, jahrhundertelang kuschelig im Schutz des römischen Reiches, gewöhnt an Zivilisation, Kultur, Komfort und vor allem an Sicherheit und Frieden, waren mit der neuen Freiheit komplett überfordert! Das wiederum hatten die im heutigen Dänemark und Skandinavien lebenden Wikinger schnell heraus: Alle paar Wochen unternahmen diese eine Art “Shopping-Tour” der besonderen Art, einmal quer über die Nordsee von Dänemark nach Britannien und bedienten sich ausgiebig. Man zahlte in international gültiger Währung: “Überfall”, “Brandschatzung”, und als “Trinkgeld” gab’s ordentlich was in die Fresse!

Bis die Kelten in ihrer Drangsal schließlich, knapp zwei Generationen nach dem Abzug Roms, die an der südlichen Nordseeküste lebenden Sachsen, Angeln, Jüten und Friesen zu Hilfe riefen. — Und die kamen.

Den Wikingern hatte man durchschlagend heimgeleuchtet. Worauf die heimische Keltenbevölkerung, erfreut und dankbar, einer Ansiedlung der wehrhaften Leute vom Festland zunächst gerne zustimmte.

Kelten und Germanen: Feinsinnig und zivilisiert trifft auf robust und ungehobelt. Wie geht das aus? Im Nullkommanichts waren die Germanen die Chefs!

Das heißt aber noch lange nicht, dass die neuen Chefs auch die Kultur und die Lebensart im Land beherrschen… Es gab jede Menge Austausch. Und wo das nicht möglich war, wie zum Beispiel auf Grund mangelnden Feingefühls bei den Germanen, wurden die filigraneren Dinge des Lebens doch wenigstens geduldet (wenn auch manchmal von ein paar groben Witzen begleitet).

Auch in der Religion gibt es so eine Gemengelage.

An der Ost- und Südküste des “Mare Germanicum”, wie Tacitus die Nordsee nennt, herrschen über unsere Freunde Hroðgar, Finn Folcwalding und Gefwulf die Götter Wodan, Thunor, und Tīg (bei den Sachsen auch Saxnot genannt), zusammen mit den Damen der germanischen Götterwelt Frija und Erce, und das unheimliche Schicksalswesen Wyrd. — Diese Herrschaften sind selbstverständlich auch in der neuen Heimat mit von der Partie.

Auf der britischen Insel treffen die eingewanderten Götter auf jede Menge alteingesessene, keltische Kollegen. Bei denen haben die Damen starkes Gewicht, z.B. die unheimliche Morrigan, die nette Brigid, die Dichtkunst und Poeten schützt (ein derartiges Fachgebiet besitzen die Germanen überhaupt nicht!), die eher kracherte Kriegerin Macha Mongruad, die liebliche Aine (Abteilung Liebe), Arawn, Ceridwen. Ein paar Jungs gibt’s auch, wie Dewi, Dagda, Donn und Lugh.

Auch die Römer haben ein paar höhere Wesen zurückgelassen. Jupiter, Ares, Apollon und Venus sind Abteilungskollegen von etlichen einheimischen Überirdischen. Deswegen vertragen sie sich ausgezeichnet.

Nur mit dem Christentum sieht es noch mau aus. Aus der Römerzeit sind zwar ein paar kleinere christliche Gemeinden übriggeblieben; aber sie erhalten durch die Neu-Chefs keinen Nachschub.

Denn an den Festlandküsten der Nordsee gibt es überhaupt keine Christen. Das liegt daran, dass die paar Mönche, die es bis hierher versprengt hat, mit nichts Eindruck machen können: Sie verstehen die Mentalität der Leute nicht und gehen den Einheimischen nur auf die Nerven. Was durchaus darin gipfeln kann, dass man sie, hau-drauf-und-schluss, erschlägt, damit man endlich vor den ausländischen Plapperfritzen seine Ruhe hat!

Das einzige, was man sagen kann, ist, dass im Jahr 500 der Name “Christus” oder “Christen” selbst hier mitten in Germanien an den Küsten dieses wilden Meeres wenigstens keine Unbekannte mehr ist.

Trotzdem kriegt die Christianisierung Fahrt. Zu den Geschichten über das alte römische Reich, das Britannien einmal beherrscht hatte, kommen jetzt auch neue Geschichten hinzu: über das neue Rom, den Sitz des Papstes, neue, moderne Strömungen. All das formt sich zu einem neuen Bild über die neue Religion, auf das man zumindest neugierig ist…

Und schließlich ist im Britannien des frühen sechsten Jahrhunderts sowieso alles im Umschwung und sich-Vermischen — ein frühmittelalterlicher “Melting pot”! Die Menschen, ob Bauer, Krieger oder Häuptling, sind grundsätzlich auf Veränderungen eingestellt. So kommt mancher Häuptling auf die Idee, im Donar-Hain oder beim Beltane-Fest ruhig auch diesem Christus ein paar Referenzen zu machen. Böse wird er sicher nicht sein…

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04 Angst vor der neuen Welt                    

Aber es gibt auch die, denen es Angst und Bange wird vor einer neuen, so völlig anders gearteten Religion. Darunter sind auch welche, die die Zeichen der Zeit richtig deuten, die eine dumpfe Ahnung haben davon, dass die Welt sich am Vorabend einer komplett neuen Zeit befindet. Dass es nicht mit ein paar neu aufgestellten Götterbildern getan sein wird. Sondern dass die Menschen einer neuen gänzlich anderen Lebensart unterworfen werden.

Versuchen wir uns das vorzustellen.

Da könnte doch dieser Häuptlingssohn sein, nennen wir ihn… Wulfgeal. Er ist der vierte Sohn von Häuptling Cheadda, des Herrn von Hrolfheall in Essex und hat bis jetzt ein prima Leben verbracht als Häuptlingssohn, angehender Krieger, Raufbold, Jäger.

Jetzt steht ganz Hrolfheall vor einem großen Fest. Der älteste Sohn des Häuptlings, Affa, ist zurückgekehrt, nachdem er seine Ausbildungszeit am Hof König Clovis’ bei den Franken verbracht hat. Jetzt wird er das Erbe seines Vaters antreten und Herr von Hrolfheall werden.

Für Wulfgeal hat die Sache allerdings einen Haken: Sein großer Bruder Affa ist im Süden zum Christen erzogen worden. Und er hat angekündigt, dass der komplette Haushalt zum Christentum übertreten wird. Sogar einen Priester hat er mitgebracht. Und was der Kerl so erzählt hat, von “Ora” und “Labora”, das schmeckt dem wilden, freien Wulfgeal gar nicht!

Statt Jagen, Fischen, Herumprügeln mit den Kumpels: Lernen und Arbeiten und Beten (was immer das überhaupt war)! Statt den Mädchen des Shires nachzustellen: keusch sein! (Lächerlich!) Das schöne Leben dürfte zuende sein!

Dann kommt es noch schlimmer! Affa zieht ein, übernimmt sein Erbe, wird Klan-Vorstand und heiratet. Zur Hochzeit – die Tochter von Häuptling Wergisl, ein paar Shires weiter – soll der ganze Klan dann geschlossen zum Chistentum übertreten!

Das macht Wulfgeal nicht mehr mit. Er macht sich vom Acker! Wohin, weiß er nicht; schlägt sich erstmal so durch, von Dorf zu Dorf, verdient hier ein paar Mancus[i], kriegt dort eine Mahlzeit für Aushilfe. Und erfährt, dass er nicht der Einzige ist, der vor der neuen Religion Horror hat.

Einige machen ihre Witze. Da gibt es die Story von dem Königshof, wo König und Königin zweimal dieses Osterfest feiern: er im März, sie im April!

Weil das hohe Paar nämlich zwei verschiedenen Ausformungen der neuen Religion angehört: der früheren arianischen und der neuen römischen Lesart. Von den theologischen Hintergründen wissen die Leute nichts. Aber wenn sowas nicht beknackt ist!

Spaß beiseite: Es gibt auch welche, die haben richtig Angst! Davor, dass sich alles ändern wird! Dass die alten Götter verschwinden sollen! Und auch das alte Wissen!

Und damit auch alle, deren Beruf etwas mit den alten Göttern und altem Wissen zu tun hat: ob Druiden, weise Frauen – Wicces ‑, Wītas (“Wissens-Sammler”) oder Barden — Sie alle werden von den Verkündern der neuen Religion plötzlich gebrandmarkt wie böse Geister! Und es ist dabei ganz egal, ob es sich um Kelten oder Germanen handelt!

Es soll sogar, erfährt Wulfgeal während seiner Wanderungen, irgendwo Leute geben, die die Schnauze derart voll von dem neumodischen Irrsinn haben, dass sie planen das Land zu verlassen!

Die Vorstellung packt den jungen Abenteurer. Und plötzlich hat Wulfgeal ein Ziel: Die Auswanderer finden und sich ihnen anschließen!

Aus seinem planlosen Herumwandern wird Suchen und Herumfragen. Aber diese geheimnisvollen Auswanderer zu finden, erweist sich als richtiges Problem! Denn diese Leute werden als Verbrecher gehandelt und von den Behörden gesucht. Mehr als einmal wird Wulfgeal verhaftet und verhört. Bis er schließlich lernt, seine Suche zu tarnen und im Geheimen fortzusetzen.

Wandern durch das spätantike/frühmittelalterliche Britannien. Eine Gesellschaft im Umbruch. Rückentwicklung: von den komfortablen spätantiken Städten zu kleinen Hutzeldörfern. Die Häuser werden wieder aus Holz gebaut. Die römische Zivilisation beginnt in Vergessenheit zu geraten. In der Ferne kann man noch die Steingebäude sehen, die langsam verfallen. Ihre Architektur wird unverständlich. Und wie sie gebaut wurden, weiß man nicht mehr.

Legenden beginnen sich um die Ruinen zu ranken. Wie, zum Beispiel die, dass die Häuser innen so warm gewesen wären, selbst im Winter, dass die Menschen darin sich täglich gewaschen, und sich dazu sogar nackt ausgezogen hätten! Ja, sogar in großen Becken voll mit warmem Wasser hätten sie gebadet! Unglaublich!

Andere Erzählungen handeln davon, dass in den römischen Steinhäusern Menschen und Tiere nicht unter ein- und demselben Dach, sondern in verschiedenen Häusern untergebracht gewesen sein sollen!

Und gute Kunden sollen diese Herrschaften aus dem Süden auch gewesen sein! Den hiesigen Handwerkern und Bauern habe man ihre Erzeugnisse für gutes Geld abgekauft. Jetzt wird man sehr oft nur mit Naturalien bezahlt. Das gilt selbst für die hochwertigen Dienstleistungen von Druiden, Sehern, Wicces ‑ Hexen ‑, Barden oder Wītas.

Respektvoll und staunend steht man vor den Überresten der grandiosen Infrastruktur des alten Reiches. Das muss man sich mal vorstellen: Es gab einst befestigte und sichere Straßen durch das gesamte Land! Davon kann jetzt natürlich keine Rede mehr sein. — Jetzt muss man froh sein, wenn man sein Fahrzeug ohne Achsenbruch von einem Dorf ins nächste kriegt!

Und dann das Gesindel! Räuber und Wegelagerer soll es früher praktisch nicht gegeben haben! Da konnte man angeblich in aller Gemütlichkeit von einem Ende des Landes bis ans andere reisen, ohne dass einem was passierte!

Auch davon ist man jetzt weit entfernt! Jetzt muss man im Grunde bei der Planung einer Reise mit einplanen, dass man Wegelagerer bezahlen muss!

Und früher sollen auch die Steuereintreiber intelligenter gewesen sein und nicht so oft vergessen haben, dass sie in einem Dorf bereits gewesen waren!

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05 Merkwürdige Frauen

Unterwegs irgendwo zwischen Mercien und Wessex wird Wulfgeal von einem Leiterwagen überholt, der holpernd und krachend Sklaven zum nächsten Markt transportiert. Die Mehrzahl sind Frauen und Mädchen, die Wulfgeal sich interessiert betrachtet. Einzelne findet er richtig hübsch. Übermütig winkt Wulfgeal ihnen zu, und eine von ihnen winkt sogar zurück und macht ‑ zu Wulfgeals großem Vergnügen ‑ auch noch eine anzügliche Geste dazu.

Derart eingeladen, folgt Wulfgeal dem Leiterwagen, allerdings in gebührendem Abstand. — Die Sklavenhändler und das Aufsichtspersonal solcher Sklaventransporte haben wenig Humor und können allzu großes Interesse auch mal mit Peitschenhieben quittieren. Aber am Verkaufsstand auf dem nächsten Markt gibt es bestimmt was zu sehen, denn Sklaven müssen sich zur Begutachtung meistens nackig ausziehen…

Genau so ist es dann auch. Genüsslich beobachtet Wulfgeal aus sicherer Entfernung die Präsentation der Sklavinnen. Kaufen kann er sich natürlich keine… Aber der Anblick der nackten feilgebotenen Mädchen ist ja auch schon was…

Zweien der Sklavinnen werden wir später wieder begegnen. Eine ist die Prostituierte Rathe. Das ist die, die vom Wagen aus Wulfgeal zugewinkt hat: eine große, stämmige rothaarige Sächsin, frech, ordinär und übermütig. Dabei hat sie kein besonders nettes Schicksal hinter sich: als Findelkind einem Bauern vor die Tür gelegt, wurde sie zwar dort aufgenommen, aber nur zur Magd erzogen. Allzuviel Begabung für diesen Beruf hatte sie nicht, mit ihrem frechen, aufmüpfigen Wesen. Und als sie schließlich ihren Herrn und Ernährer einfach mal tätlich angriff, hatte dieser keine Hemmungen und machte sich daran, die aufmüpfige Magd totzuschlagen. Rathe kann ihm aber entwischen.

Es folgte eine abenteuerliche Zeit, in der sie ihren Lebensunterhalt als Dirne verdiente — bis sie schließlich von einem unzufriedenen Kunden verklagt und vom Gericht verurteilt wurde, ihre Strafe nicht zahlen konnte und den Offenbarungseid leisten musste. Was sich so äußert, dass man sich als Sklave selbst verkaufen kann.

Ebenfalls auf dem Leiterwagen sitzt die Keltin Alren: zierlich, dunkelhaarig, hellhäutig, mit großen grünen Augen. Auf zehn “Fæt” (Fuß) Entfernung sieht man ihr an, dass sie “was Besseres” ist. — Allerdings: Sie wuchs auf als Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Man hatte ein großes Haus aus richtigen Steinen und pflegte, mehr schlecht als recht, aber immerhin, der spätrömischen Kultur und Zivilisation. Man badete täglich, wusch sich vor und nach Mahlzeiten die Hände und lief nicht mit schmutzigen Straßenschuhen im Haus herum.

Das alles erhielt man aufrecht, obwohl die Geschäfte lange nicht mehr so gut gingen wie zur Blütezeit der römischen Besatzung. Jetzt haben nicht mehr viele Leute Geld, um Waren zu kaufen. Man ist zum Tauschhandel zurückgekehrt — was einem Kaufmann den Boden des Geschäftes unter den Füßen wegzieht!

Aber es kam noch schlimmer: Der Vater wurde Opfer eines Raubüberfalls und erschlagen! Alren und ihre Mutter standen plötzlich allein und ohne Schutz auf der Welt!

Rettung kam in Person des Gutsbesitzers Folgar, der sich für Alrens Mutter ‑ vielleicht auch mehr für die Mitgift ‑ interessierte. Er ist einer der ungehobelten Sachsen, um die Fünfzig, war schon viermal verheiratet und hatte zum Teil schon erwachsene Kinder.

Für die beiden feinen Frauen ist das Leben unter dem Dach des ungehobelten Sachsen zwar ein Kulturschock, hätte aber trotzdem noch ganz komfortabel sein können, wenn nicht… Ja, wenn nicht die Tochter dem Hausherrn noch besser gefallen hätte als die Mutter!

Es folgen diverse Vergewaltigungen. Aber bei einer der Attacken wehrt Alren sich und verletzt Folgar. Der hat die Nase voll von so einer ungehorsamen “Tochter” und verkauft sie kurzerhand.

Vor dem Marktstand, auf dem die Sklaven präsentiert und angepriesen werden, steht eine merkwürdige, schon etwas ältere Frau. Grau-melierte Haare hängen lang, strähnig und ungepflegt um ein hageres, lederartiges Gesicht. Auch ihre Kleidung ist nicht nur vielfach geflickt, sondern auch ungepflegt und angeschmutzt. Ihre Gestalt allerdings ist groß und irgendwie Respekt-heischend. Sie heißt Rigmor und ist eine “Wicce”, eine Zauberin / Hexe / Schamanin.

Zum Staunen der Umstehenden und auch des Händlers kauft sie Rathe und Alren.

Mit Stielaugen sieht Wulfgeal den drei Frauen nach, wie sie den Ort verlassen, Rigmor auf einem Maultier, und die beiden jungen Frauen zu Fuß hinter ihr her.

Dann wendet er sich wieder dem Tagesgeschäft zu und vergisst die Frauen. — Er weiß natürlich nicht, dass er sie wiedersehen wird.

Die Hexe Rigmor führt die beiden jungen Frauen nach Westen, Wales, in einen riesigen, wilden Wald. Unterwegs freunden Rathe und Alren sich an. Rathe geht Rigmor ganz schön auf die Nerven mit ihrer lauten und wilden Art.

Nach endlosem Wandern erreichen die drei Frauen ein winziges, im Wald verstecktes Dörflein in dem lauter Hexen leben. Rathe und Alren werden getestet und ausgebildet.

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06 Am Ende der alten Welt

Kehren wir zu Wulfgeal zurück. Er findet schließlich die Spur der “Forlætas”, wie die Auswanderer genannt werden. Sie führt in den Westen, nach Wales hinein. Je weiter er nach Westen gerät, desto dichter und konkreter werden die Gerüchte.

Bei der Durchquerung eines riesigen Waldes im Winter verhungert und erfriert er fast. Druiden finden ihn und päppeln ihn wieder hoch. Von ihnen erfährt er die endgültig-konkreten Hinweise. Zum ersten Mal hört er die Namen der Anführer, Stælhere und Scaíl: ein Germane und ein Kelte also.

Die Druiden zeigen Wulfgeal den Weg durch den Wald nach Westen. Er kommt nach Wales hinein. Hier hat man jede menschliche Zivilisation hinter sich gelassen! Wild-zerklüftete Landschaft, deren Horizont einen düsteren Himmel berührt mit vom Sturm zerfetzten Wolken! Wulfgeal schlägt sich durch bis an die Küste und reitet dort oben am Rand der Felsen entlang, links der Abgrund in die irische See. Schäumende Brecher da unten in der Tiefe! Der Horizont verschwimmt im Nebel… Und außer dem einsamen Reiter kein Mensch mehr auf der Welt!

Bis Wulfgeal gefangengenommen wird! Von einer wilden Bande, gegen die er sich nicht wehren kann! Sie nehmen ihn mit. Verschlungene Wege, weit durch diese Weltends-Landschaft…

So kommt er letztendlich bei den “Forlætas” an.

Stælhere ist ein rothaariger Riese. Neben ihm steht ein kleiner, zierlicher dunkelhaariger Mann, eindeutig Kelte: Scaíl! Das sind die Anführer.

Die Gruppe ist eine bunt-bizarre Mischung: Nordseevolk, sowohl aus Britannien als auch von der Festlandküste, Chauken, Sachsen, Friesen, Jüten, Teutonen, Warnen… Sie sind aus den verschiedensten Gründen dabei: Leute, die nicht einsehen, sich christianisieren zu lassen… Verhungerte, die in Britannien keine Lebensgrundlage mehr haben… Kelten, die nicht nur vor dem Christentum fliehen, sondern auch vor den Sachsen, die sie schließlich an den Rand der Insel gedrängt haben. Auch Wikinger sind dabei und selbst ein paar übriggebliebene Römer! — Übriggebliebene und Vergessene, Aussteiger und Abenteurer!

Seit mehreren Jahren schon bereiten Stælhere und seine Leute das Unternehmen vor: Sie haben Schiffe gebaut oder auch gekapert, Leute um sich geschart, Vorräte gesammelt. Jetzt steht man kurz vor dem Abschluss, um in See zu stechen — um diesem Land für immer den Rücken zu kehren! — Wohin? Das weiß keiner!

Ein Teil der Schiffe sieht exotisch bis beknackt aus! Wulfgeal erfährt, dass es Eigenkonstruktionen der “Forlætas” sind: Ihre Schiffsbaumeister sind ein Trupp aus Wikingern, Sachsen und Römern, und sie haben gemeinsam einen ganz neuen Typ entwickelt: sehr groß, so dass etwa fünfhundert Leute auf ihnen Platz haben… das Verhältnis Breite zu Länge etwa 1:7, was sie ungeheuer schnell macht. Die Planken sind in Klinkerbauweise zusammengefügt; der Kiel hat eine ganz besondere, noch nie dagewesene Form, die dem Schiff sowohl Wendigkeit als auch besondere Stabilität verleiht: Eine Mischung aus Knorr, Wikinger-Langschiff und antikem Kriegsschiff…

Die europäische Welt wird von diesem Schiffstyp nie erfahren, und selbst die nautischen Entwicklungen späterer Jahrhunderte werden nicht an diese kleinen technischen Wunder heranreichen. Aber wie gesagt, das werden sie nichtmal erfahren.

Im Herbst 519 verschwindet Stælhere plötzlich! Mehrere Tage und Nächte hört niemand was von ihm. Dann taucht er wieder auf. Aber wie! Als Gefangener! Und wer ihn da festgesetzt hat, das ist ein Trupp… Frauen!

Das heißt, wenn man die Kategorien sehr großzügig ansetzt: eine verwilderte Bande von verwüsteten Gestalten, die man gerade so noch als weibliche Wesen erkennen kann! Sie haben Stælhere als Geisel genommen und verlangen auf den Schiffen mitzusegeln.

Die Frauen sind mager, zerlumpt, verdreckt und verlaust! Seit Jahren hausen sie an einem versteckten Platz im Wald und ernähren sich von Pilzen, Beeren, und ab und zu einem erlegten Tier. Jede einzelne hat ein echtes Schicksal hinter sich: vom Mann gequält, vom Vater einem ungeliebten Mann verkauft, geprügelt, geschändet, misshandelt! Bis sie es nicht mehr ausgehalten hatten und abgehauen waren. Andere hatten als Wahrsagerin oder Schamanin irgendeinen Fehler gemacht und waren aus dem Dorf gejagt worden! Oder gerade noch entkommen, bevor man ausgepeitscht worden wäre! — Auf der Flucht hatte man Seinesgleichen getroffen, eine Art Frauen-Gang gegründet und sich an einen versteckten Platz tief im Wald zurückgezogen. Regeln und Gesetze gelten für diese Verzweifelten nicht mehr, bis auf eins: Überleben!

Die “Forlætas” sind ihre große Chance, ihrem elenden Leben und ihren Strafen zu entkommen.

Unser Feund Wulfgeal staunt nicht schlecht, als er die Frauen sieht: Unter den elenden Gestalten erkennt er Alren, Rathe und Wigmor wieder.

Gegen Jahresende 519 fangen die Ereignisse an schneller zu takten. Es gibt Gerüchte, dass die Späher von König Wulfhere von Mercien das Camp der Auswanderer entdeckt hätten. Der König, jung, seit fünf Jahren erst auf dem Thron, und ein wütender, fanatischer Christianisierer, wird spätestens nach Midwinter Soldaten losschicken!

Etwa zur gleichen Zeit, am Midwinter-Tag 519, verkündet der Ober-Druide der Forlætas, dass es am 16. Februar 520 eine Sonnenfinsternis geben werde.

Die Entscheidung trifft sich fast von selbst: Im Schutz der Sonnenfinsternis wird man in See stechen!

Am 16. Februar 520 kommt es dann zu dramatischen Ereignissen. Genau an diesem Tag erreicht König Wulfhere mit seiner Armee das Camp der Forlætas. Die Schiffe sind noch lange nicht reisefertig. Der Untergang der Rebellen ist sicher!

Da hat eine der Wicces, Rigmor, die Idee. “Wir verschwinden in eine andere Welt! Eine Parallelwelt, in der die Ereignisse anders verlaufen werden…”

Und den staunenden Auswanderern ‑ einige tippen sich auch an die Stirn ‑ erklärt sie, was zu tun ist. “Wenn die Welt sich gleich verdunkelt, öffnen sich die Tore zu den Parallelwelten. Ich leite uns hinüber…”

Stælhere und Scaíl beraten sich mit ihrer Führungsgruppe, im Angesicht der sich nähernden Armee. Was haben sie für eine Wahl?

Es wird sechs Uhr. Die eben erst aufgegangene Sonne verschwindet plötzlich wieder.

Die Soldaten des Königs, tief verängstigt, stoppen alle Aktivitäten und verfallen in Trance-artiges Beten. Die “Forlætas” lichten die Anker, setzen die Segel und machen sich davon, Richtung Südwesten.

Am Bug des Leit-Schiffes steht Rigmor neben Scaíl, der sie mit angehaltenem Atem beobachtet. Auch sie wirkt wie in Trance, hat einen abwesenden Blick und lauscht in das Wurmloch zwischen den Universen hinein.

Irgendwann hebt sie beide Arme, weist auf einen gigantischen Nebel. Dort hinein segeln die Schiffe.

Auf einem der Schiffe steht Wulfgeal und sieht zurück zur immer kleiner werdenden Küste, die in seltsamer, gespenstischer Düsternis liegt. In seinem Leben wird er sie nicht mehr wiedersehen.

Was er ‑ und mit ihm alle anderen ‑ nicht weiß: Die am Ufer zurückbleibende Armee gehört schon nicht mehr in das Universum, das er eben verlassen hat. – Das Universum, in dem die “Forlætas” es nicht mehr schaffen und von der Armee des Königs gejagt, gefangen und vernichtet werden, das gibt es immer noch. Aber in jenem Universum befinden sie sich nicht mehr.

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07 Die Abzweigung

Eine gigantische Odyssee hat ihren Anfang genommen. Nicht Jahre werden die Auswanderer unterwegs sein, sondern Jahrzehnte! — Zunächst geht es an den europäischen Küsten entlang stramm nach Süden, und nach ein paar Wochen erreicht man Nordspanien.

Von da weiter an die marokkanische Küste. Dort bleiben sie zwei Jahre, um ihre Schiffe zu reparieren. Neue Passagiere stoßen zu ihnen: Araber und Römer, die sich in ihrer Heimat-Gesellschaft unbeliebt gemacht haben. Unter anderem deswegen, weil sie Erfindungen gemacht hatten, die den Zeitgenossen unheimlich sind…

Eine der Erfindungen gehört zum Schiffbau und ermöglicht es einem Schiff, gegen den Wind zu kreuzen. Die “Forlætas” gestatten es den “Neuen”, diese Erfindungen an ihren Schiffen in die Tat umzusetzen…

Das Ergebnis ist, dass man die Fähigkeit erwirbt, über offenes Meer zu segeln.

Noch nie hatte ein Schiff die halbwegs sicheren Küstengewässer verlassen! Die “Forlætas” tun es! Etwa auf dem 22. nördlichen Breitengrad verlassen sie die Alte Welt und segeln nach Südwesten, aufs weite, offene Meer. Ihre Spur verliert sich in den Unendlichkeiten von Raum und Zeit.

In der alten Heimat wächst – im wahrsten Sinne des Wortes – Gras über die Orte, an denen Stælhere und seine “Forlætas” sich gesammelt hatten; der Wind verweht ihre Spuren… Eine kleine Legende entsteht, die erzählt, dass die “Forlætas” vom Rand der Erde heruntergefallen seien… Als Strafe für ihre Weigerung sich zum Christentum bekehren zu lassen. — Das setzt sich nämlich gut vierzig Jahre später vollständig auf der Insel durch.

Dass es auf dem kontinentalen Festland noch etwas länger brauchte, wissen wir. Dort kämpfte noch im neunten Jahrhundert ein nichtchristlicher Häuptling gegen einen christlichen Kaiser: Widukind der Sachse gegen Karl den Großen. Nichtchristen nannte man zu der Zeit bereits “Heiden”.

Der “Rand der Erde”, beziehungsweise das Ende der bekannten Welt befindet sich vier Jahre nach dem Start der “Forlætas” hinter den kapverdischen Inseln. Dort kommen Stælhere und Scaíl mit ihren Leuten an und haben bis jetzt nur ein einziges Schiff in einem Sturm verloren! Von einem “Rand der Erde” weit und breit nichts in Sicht!

Es folgt Ascension Island, mitten im atlantischen Ozean. — Mittlerweile haben sie längst einen Verdacht, dass die Welt eine Kugel sein könnte.

Nach Gough Island im Südatlantik drehen sie ab nach Südosten: danach Reunion und Mauritius.

Zehn Jahre nach ihrem Abschied erreichen sie die Cocos-Inseln.

Ein Jahr später Java. Hier glauben sie sich schon am Ziel, werden aber von der einheimischen Bevölkerung attackiert und beinahe verspeist! Also macht man sich wieder auf den Weg.

Und hat unglaubliches Glück: Im Jahr 535 ereignet sich in der Sundastraße zwischen Sumatra und Java, genau dort, wo sie sich aufgehalten hatten, ein gewaltiger Vulkanausbruch, der globale Folgen nach sich zieht: Acht lange Jahre Missernten, Hungersnöte und die Ausbreitung der Pest. In Griechenland, Italien und China verdunkelt die Sonne sich in den Jahren 535 und 536 für Monate! In China gibt es seltsame Niederschläge: vulkanische Asche!

Die “Forlætas” befinden sich zu der Zeit gut dreitausend Kilometer entfernt mitten auf dem offenen Südpazifik. Natürlich kriegen sie den Vulkanausbruch mit: Es gibt einen Knall, den sie selbst in dieser Entfernung noch hören! Und selbstverständlich geht der Ascheregen auch auf sie nieder, und die verdunkelte Sonne macht auch ihnen Angst.

Durch dieses Ereignis irren sie – auf der Suche nach lichteren und weniger zerstörten Gegenden – mindestens ein Jahrzehnt länger in Südostasien umher! Die bei der Abreise jungen Leute werden älter, Paare finden zusammen, Kinder werden geboren, Generationen wechseln, und einige der Auswanderer sterben, bevor man das Ende der Fahrt erreicht hat.

Im Jahr 652 landen sie an der westaustralischen Küste, die sie aber sofort wieder verlassen, weil es dort nur Sand und Steine gibt.

Ihr endgültiges Anlandungsgebiet ist dann ein saftig-grüner, bewaldeter Küstenstreifen 34 Grad südliche Breite, 115 Grad östliche Länge. An Land gehen 2.778 Männer, Frauen und Kinder und gründen Neasaxxan, das später, als man den gesamten Kontinent beherrscht, nur noch Saxxan heißt.

330 km östlich des Landungsplatzes entsteht später die Stadt Hēdlæh (in unserem Universum würde sie Melbourne heißen).

Man gründet Ortschaften, Gemeinwesen und nimmt das Land in Besitz. Das heißt, nicht ganz: Auch in diesem Parallel-Universum trifft man auf die Aborigines. Und auch hier vermischt man sich nicht, aber es entwickelt sich eine relativ friedliche Koexistenz. Jeder bleibt für sich, aber man tauscht Handelsgüter und Wissen aus.

Ähnlich machen es die wilden Frauen, die “Wicces”: Auch sie bleiben für sich und gründen ihr eigenes Gemeinwesen, “Seolfordæl”, in dem ausschließlich diese Frauen leben und niemand anders. Im Unterschied zu den Aborigines, sind sie nicht an irgendeinem Austausch interessiert, sondern schotten sich ab. — Nach einiger Zeit heißen sie nicht mehr “Wicces”, sondern man nennt sie den “And-Higan”, die “Gegengemeinschaft”, die nichts mit den anderen zu tun haben will. Schließlich nennen sie sich auch selbst so: “Andhigans”.

In den folgenden Jahrhunderten wird die Welt einen anderen Verlauf nehmen als wir ihn kennen.

[i] Mancus — altenglische Münze